Zerschlagene Scheiben, brennende Autos, besetzte Gebäude: französische Studenten sind bei der Durchsetzung ihrer Forderungen wenig zimperlich. Über Monate präsentieren sie sich derartig hartnäckig, dass der Premierminister zum Einknicken gebracht und die Lockerung des Kündigungsschutzes verhindert wird. Dagegen wirken die Proteste (z. B. gegen Studiengebühren) in Deutschland bestenfalls harmlos.
Als Die Zeit vor einigen Wochen einen Heidelberger Studenten fragt, ob er neidisch auf die französische Protestkultur sei, antwortet dieser mustergültig und repräsentativ:
„Neidisch bin ich nicht. Ich bin zwar hier einmal oder zweimal bei einer Demo mitgelaufen. Aber eher, weil sie direkt vor meiner Tür entlangging. Da konnte ich nicht anders. Gestern war ich wieder an der Uni. Zum Studieren, nicht zum Blockieren.“ (hier)
Die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform in Frankreich haben gezeigt, wie wirkungsvoll Studentenproteste sein können. Woher also bezieht die französische Génération Précaire ihr Potential, und was kann die Generation Praktikum in Deutschland von ihr lernen?
Zuerst hilft ein Blick in die Vergangenheit, in der sich die Werte der beiden Gesellschaften generierten.
In Frankreich prägt die Revolution von 1789 bis heute das Selbstverständnis der Menschen. Durch den vom Bürgertum initiierten Umsturz wurde die absolute Monarchie von der Republik abgelöst. Seither ist in Frankreich eine hohe Bereitschaft zu Protesten zu beobachten, die der Soziologe Alain Touraine so zusammenfasst:
„Wie immer möchten die Franzosen wegen kleiner Veränderungen gleich einen Bürgerkrieg anzetteln.“ (dort)
In Deutschland hat es keine Revolutionen von unten gegeben. Schon in Preußen blickten die braven Untertanen zu den Autoritäten auf, Traditionalismus, Militarismus und Romantizismus beherrschten das Denken. Bis heute ist das Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung autoritär-hierarchisch geblieben: Die Regierung verkündet, was zu tun ist und die Bevölkerung beeilt sich, den Anweisungen Folge zu leisten. Der „kleine Mann“ ist bemüht, sein Umfeld in Ordnung zu halten und keine Aufmerksamkeit bei den Nachbarn zu erregen. Nur die mittlerweile durch die Institutionen marschierte 68er-Generation probte in Zeiten sozialer Sicherheit für einige Jahre den Aufstand. Heute zucken die Studenten nur noch mit den Schultern, der Aufschrei bleibt aus.
Neben der Geschichte gibt es eine zweite Ungleichheit, die für das differente Verhalten der Studenten relevant ist. In Frankreich ist die Unilandschaft, wie von Bourdieu im Staatsadel dargelegt, eine Zwei-Klassengesellschaft. Reiche Kinder besuchen die Eliteuniversitäten des Landes, so genannte Grandes Écoles. Die Kaderschmieden bilden ein in sich geschlossenes System, in dem die Elite des Landes reproduziert wird. An den vier großen Grandes Écoles können sich die 3000 Studenten nach ihrem Abschluss aussuchen, in welcher Spitzenposition sie arbeiten wollen. In einer ansonsten trostlosen Landschaft der französischen Universitäten, die ebenso aus allen Nähten platzen und ebenso wenig Geld haben wie die deutschen, sind die Grandes Écoles die Insel der Seligen. Ihre Studenten sind auch nicht auf die Straße gegangen.
Der restliche Großteil der französischen Universitäten entlässt seine Absolventen mit Ausbildungen, die kaum noch gefragt sind. Der Markt für Akademiker wird immer kleiner, viele Uni-Absolventen müssen sich mit Zeit- und Aushilfsverträgen über Wasser halten. Der Illusion, einmal ein hohes Amt zu bekleiden, gibt sich niemand hin.
Ein weiterer Aspekt, der eine Spekulation wert ist, wäre die zeitliche Nähe zwischen den Unruhen in den Banlieues und den Studentenprotesten. Auch wenn die beiden Proteste nichts gemein haben, scheint es, als hätten sich die Studenten einige Monate zuvor abgeschaut, wie man die mediale Aufmerksamkeit und Wirkung seiner Anliegen maximiert: indem man über einen möglichst langen Zeitraum möglichst radikal vorgeht. In dieser Hinsicht ist es eine Ironie des Schicksals, dass die Studenten mit von den Bewohnern der Vorstadtghettos abgeschauten Praktiken genau die politische Maßnahme erfolgreich bekämpft haben, die eine Spontanreaktion der Regierung war, um in den Banlieues die Jugendarbeitslosigkeit zu senken: die Lockerung des Kündigungsschutzes.
Die tiefsitzende Verunsicherung bezüglich der eigenen Zukunft, gepaart mit der historischen Revolutionsfreudigkeit und der Inspiration durch die Ausschreitungen in den Banlieues ist ein Ansatzpunkt, um den anhaltenden und entschiedenen Protest in Frankreich zu erklären.
Obwohl die Berufsaussichten für Akademiker in Deutschland nicht besser sind, verspüren nur wenige Studenten die französische Wut auf das System. Die guten Jahre sind wohl vorbei, denken sie sich in Deutschland – und internalisieren nach altbekanntem Muster stillschweigend die geforderten Tugenden wie Mobilität und Flexibilität.
Dass es anders geht, haben die Franzosen vorgemacht. Hiesigen Schüler- und Studentenorganisationen wurde gezeigt, dass Streiks und wochenlange Massendemonstrationen Erfolg haben können. Trotzdem deutet nichts darauf hin, dass die Generation Praktikum von ihrem Nachbarn lernen will – sie schreibt lieber fleißig Bewerbungen für unbezahlte Praktika.